Wisser oder Könner oder „wenn Zahlen richten“

Schule ist ja nicht unser Beruf, sondern der unserer Kinder – also sind Hausaufgaben zunächst einmal deren Sache. Haben Eltern nichtimg_0707 alle Hände voll damit zu tun, das tägliche Brot, die je topaktuellen Klamotten, den gelegentlichen Urlaub zu verdienen oder den Haushalt zu aller Wohlbefinden zu managen?

Nun haben beispielsweise die Hausaufgaben unserer Kinder zwei Seiten: Die Schüler finden sie zwar einerseits lästig, andererseits sind sie etwas Kostbares. Denn wo sonst kann man das eigene Verständnis in Ruhe überprüfen oder neuen Lernstoff selbstständig trainieren? Im Unterricht wendet man sich doch im Zweifelsfall immer sofort an den Nachbarn: „Du, wie geht das?“

Vor ein paar Tagen haben meine Kinder nach den Zeugnissen und Noten aus meiner Schulzeit gefragt. Ich hatte befürchtet, dass dieser Moment einmal kommen würde. ☺
Alleine die „Kopfnoten“ trieben mir teilweise schon Tränen in die Augen. „Warst du so schlecht, Papa?“ Hmm, eigentlich hatte ich mich gar nicht als so schlecht in Erinnerung. Aber diese Noten sprechen teilweise eine andere Sprache. Dazu kommt, dass die Sprünge innerhalb von ein oder zwei Zeugnissen enorm sind. Erdkunde: eine 5 und ein Jahr später eine 2. Wie geht das? Hatte ich bestimmte Lieblingsländer, die wir in dem Schuljahr durchgenommen hatten? War ich verliebt in jemanden aus einem solchen Land? Hatten wir einen neuen Lehrer? Ich weiß es nicht mehr. Diese Notensprünge stelle ich in meinen Zeugnissen häufiger fest – und nach Rücksprache im Bekanntenkreis dort auch.

„Die Noten reichen nicht fürs Gymnasium“, sagte dann mein damaliger Klassenlehrer zu meiner Mutter. Heute liegt die Entscheidung zumeist bei den Eltern und Kindern. Dabei ist die Denkweise der Lehrer durchaus nachzuvollziehen. „Lernt ihr Sohn von sich aus, oder helfen Sie ihm?“, lautete eine der Fragen, die die Klassenlehrerein uns stellte. Ich konnte ihr nicht folgen. „Bei einer Entscheidung über den Besuch einer weiterführenden Schule ist das wichtig.“

Es gibt Eltern, die bei jedem Lernen und bei allen Hausaufgaben dabei sind. Hier hängen der Lernerfolg und die Qualität der Hausaufgaben ganz stark vom Engagement der Eltern ab. Entsprechend gut sind auch oft die Ergebnisse. Dann gibt es Kinder, die schaffen all das ohne Eltern. Die mühen sich durch die Übungen und handeln weitestgehend selbstverantwortlich mit zum Teil schlechteren Leistungen – aber selbstverantwortet. Was ist nun besser? Die guten Noten und Leistungen, basierend auf X % Elterneinsatz, oder die durchschnittlichen, dafür selbst erreichten Leistungen? Natürlich ist dieses Verhalten häufig in den jungen Jahrgangsstufen zu beobachten. Doch ich kenne durchaus Eltern, die noch bis in die hohen Jahrgänge hinein jeden Tag mit ihren Sprösslingen über den Hausaufgaben sitzen. Wer dann von der Schule an die Hochschule wechselt, wird schnell zahlreiche Unterschiede feststellen: Unterrichtsstunden weichen Vorlesungen, Seminaren und Übungen. Klassenarbeiten und Schulaufgaben werden durch Haus- und Seminararbeiten sowie Klausuren ersetzt. Andere Prüfungsformen, mehr Lernstoff mit dem Ziel, das „Lernen zu lernen“. Unheimlich anstrengend für alle Beteiligten, oder?

Auch viele Eltern träumen von einem Leben ohne häusliche Lernpflicht. „Verschlechtern Hausaufgaben die Beziehung zu Ihrem Kind?“, fragte die Zeitschrift „Eltern“ ihre Leser auf ihrer Website. Rund 60 Prozent aller Teilnehmer antworteten mit „Ja, das empfinde ich so!“. Viele fühlen sich nach eigenen Angaben zudem nicht kompetent, ihrem Kind zu helfen. So nehmen in höheren Klassen etliche Familien bezahlte Hausaufgabenhilfe in Anspruch. Manche Grundschulen haben die Hausaufgaben bereits gestrichen. Ersetzt werden sie allerdings meist durch zusätzliche, feste Lernzeiten, in denen die Schüler bei Übungen im Klassenverband oder in Kleingruppen betreut werden. Im Zuge des Ausbaus von Ganztagsschulen könnten die klassischen Hausaufgaben tatsächlich zum Auslaufmodell werden.

Aber ist das wirklich die beste Lösung? Psychologen und Pädagogen sind sich jedenfalls einig darin, dass es auch Vorteile habe, „zu Hause zu lernen“. Was ist also richtig?

Unsere Kinder werden heute vor allen möglichen Gefahren bewahrt: Mama (Papa) hält sie auf der Schaukel fest und bestimmt auch, welche weiteren Geräte auf dem Spielplatz zu gefährlich seien. „Spring nicht zu hoch!“; „Fall da nicht runter!“, „Pass auf …!“ Dabei sollten das die ersten wichtigen Entscheidungen im Leben eines Kindes sein: das Wagnis der Höhe und das Risiko des Scheiterns zu beurteilen.

Auch der Schulweg ist ein wichtiger Schritt in Richtung eigene Selbstständigkeit. Weitestgehend dürfen ihn kaum noch Erstklässler allein gehen. Das beraubt sie zum einen der Erfahrung und zum anderen um des Vertrauens der Eltern, dass sie die Situation schon meistern werden. Dabei führt stetiges fehlendes Vertrauen zu mangelndem Selbstvertrauen. Wollen wir das?

Wir werden Meister des Konsumierens und des reaktiven Handelns

Sehen wir uns doch mal einen perfekten Tagesablauf eines Schulkindes an. Morgens wird es geweckt, die Klamotten wurden bereits am Abend vorher von der Mutter rausgelegt. Ab und an gibt es dann morgens Diskussionen (zum Glück), da das liebe Kind dann doch einen anderen Geschmack als die Mutter/der Vater entwickelt („Aber Liebes! Gelbe Strumpfhosen auf lila Rock, das passt nun wirklich nicht. So gehst du nicht aus dem Haus.“). Der Schulweg wird meist von den Eltern oder einem Busfahrer überbrückt.

In der Schule dann wird brav der Stoff konsumiert – mal frontal, mal in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit. Sie sind Meister des Aufsaugens geworden: schlucken jeden Stoff, lernen und jagen im Idealfall guten Noten hinterher. Leidenschaft und Interesse finden wir hier selten. Ein befreundeter Lehrer ist an seiner Schule verantwortlich für die „Schüler“-Zeitungs-AG. Klar, dass sich nicht jeder Schüler dafür begeistern lässt, wenn es letztendlich doch eine Zensur gibt.

Wie sollen also Kinder/Schüler/junge Erwachsene beispielsweise ein Projekt allein betreuen? Im Zweifelsfall haben sie noch nie zuvor irgendwas selber „managen“ müssen (oder eher dürfen). Sie wissen nicht, wie es sich anfühlt, die eigene Idee umzusetzen, oder haben Angst davor, es nicht richtig zu machen. Wenn sie dann doch einmal mit etwas beginnen, wofür sie eine Begeisterung entwickelt haben, kommt meist relativ schnell ein „erwachsener Besserwisser“ mit irgendwelchen weisen Ratschlägen, Verbesserungen oder Einschränkungen vorbei (meist noch nicht einmal aus dem eigenen Erfahrungsschatz oder aus Angst vor dem, was die anderen denken).

Wie gleichen wir diesen Mangel an positiven Erfahrungen aus? Es gibt meiner Ansicht nach zwei „Industrien“, die das sehr schnell erkannt haben: die Porno- und die Spiele-Industrie. Keine Angst, das wird jetzt nicht der übliche Vorwurf gegen Games und Porno. Aber Punkte, Level, Achievements und Pokale lassen unseren Endorphinspiegel ins Unermessliche steigen und verschaffen uns dadurch die mentalen Erfolgserlebnisse, die wir sonst nicht selbst haben. Es sind Games, bei denen man sich nicht direkt verletzt, keine Schmerzen verspürt, weder Verantwortung übernimmt oder besonders kreativ sein muss. Die Spiele füllen perfekt die Lücke, die wir selbst aufgerissen haben.

Die siebenjährige Doreen darf nicht einfach so drei Straßen weiter zu ihrer Freundin gehen. Vorher wird telefonisch (von den Eltern) geklärt: Sind die Eltern da? Übernehmen sie die Aufsicht? Was wird gespielt? Was, wenn sie sich streiten? Sind alle Allergien geklärt? Wo ist der Hund der Freundin? Notfallnummer, Sonnenuntergangszeiten … Und dann wird Doreen angezogen, angeschnallt, vorbeigefahren, abgeschnallt, an die Tür gebracht, für sie geklingelt und mit der Mutter der Freundin eine Abholzeit vereinbart. Okay, okay, es ist nicht immer so. Aber der ein oder ander erkennt sich oder zumindest sein Umfeld in Teilen bestimmt wieder.

Das alles führt letztendlich dazu, dass viele unselbstständige junge Erwachsene an der Schwelle zum „Erwerbsleben“ an unsere Türen klopfen. Es sind junge Menschen, die nur schwierig Entscheidungen treffen können, weil sie es nie gelernt haben; Menschen, die uns in ihren ersten Bewerbungsgesprächen nicht in die Augen schauen können aus Angst, etwas falsch zu machen. Sie schenken ihrem Gegenüber wenig Aufmerksamkeit (was oft als mangelnder Respekt fehlinterpretiert wird). So unterschreiben sie Arbeitsverträge und erscheinen am ersten Arbeitstag einfach nicht. Nach wenigen Tagen kündigen sie ihren ersten Job wieder oder tauchen einfach nicht mehr auf. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nicht alles schlecht, und ich stelle die Situation bewusst etwas überspitzt dar. Ich glaube, wir alle fühlen uns wohl, wenn wir behütet werden; wenn wir in einem liebevollen Umfeld aufwachsen und jemand da ist, der auf uns achtgibt. Allerdings sollten wir aufpassen, dass wir uns nicht in ein behütetes Gefängnis begeben, das die dünnen Fäden, die uns halten und steuern, immer enger schnürt, je weniger wir uns bewegen.

Raus aus dem besser wissenden Erfahrungsgefängnis

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Viktor Frankl

Der Weg dorthin führt allerdings nicht über „billige und schnelle Antworten“, sondern vielmehr über Fragen, die das eigene Potenzial herausfordern und „die die Lust zum Lernen wecken“: „Was denkst du?“, „Wohin möchtest du?“, „Wofür möchtest du (ein)stehen?“, „Was ist DIR wichtig?“ …

„Freiheit beginnt im Kopf“

Kopf, der; Wortart: Substantiv, maskulin. Oft rundlicher [durch den Hals mit dem Rumpf verbundener] Körperteil des Menschen und vieler Tiere, zu dem Gehirn, Augen, Nase, Mund und Ohren gehören.

Es handelt sich um den Ort, zu dem Google hoffentlich noch keinen Zugang hat und in dem wir uns theoretisch noch ganz ungehemmt bewegen können: denken, was wir wollen, ohne Rücksicht auf irgendjemanden nehmen zu müssen – wenn wir es nur täten!
Wenn Sie jetzt Patentlösungen von mir erwarten, kann ich mit diesen nicht dienen. Da müssen Sie schon Ihren eigenen Kopf beschäftigen – oder Google fragen. ☺

Einige „Impulse“ möchte ich aber mitgeben:

Innerer Widerstand und Abwehrmechanismen sind oft wichtige Indikatoren dafür, dass wir uns gegen Neues/Anderartiges wehren. Seien wir dankbar, wenn wir durch Erlebnisse/Gespräche und Überlegungen gezwungen werden, unser Denken einfach mal infrage zu stellen. Gedanken, die uns „beißen“, sind nicht immer schlechte Gedanken.
Unser „Bauchgefühl“ kann uns sowohl ein entlastendes Freiheitsgefühl als auch ein einengendes Gefühl vermitteln. Hinzuhören, schadet nicht.
Eine achtsame Neugier auf Bekanntes und Unbekanntes, ohne jeder neuen Sau hinterherzulaufen, die durchs Dorf getrieben wird, ist heilsam.
Lyrik und Rhetorik: Sie schult uns darin, präziser zu denken und zu sprechen und uns unserer Sprache bewusst zu werden; darin, unseren inneren Dialog und den Dialog mit anderen besser zu verstehen. Sonst kann ein falsch verstandenes Wort zur Katastrophe führen. Joseph Brodsky hat bei seiner Rede zum Nobelpreisempfang gesagt: „Nur wenn man davon überzeugt ist, dass die Entwicklung des Homo sapiens zum Stillstand kommen werde, muss die Literatur die Sprache des Volkes sprechen. Umgekehrt sollte das Volk die Sprache der Literatur sprechen.“
Tun Sie Dinge, die Sie noch nie getan haben. Lesen Sie Bücher, die Sie nie lesen würden. Sprechen Sie mit Leuten, die Sie nicht kennen. Hören Sie zu, stellen Sie Fragen. Gehen Sie aus jedem Gespräch mit der Frage heraus: „Was habe ich gelernt?“

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